Das Wellhornboot – Leseprobe

Das Meer war aufgewühlt wie ein übergroßes Gebirge. Grau und schwarz waren die Wellen, die sich drohend auftürmten und immer größer zu werden schienen. An der Krone jeder Welle brach das Wasser um und durchmischte sich mit Luft, so daß dort weißer Schaum sichtbar wurde. Bedrohlich sah der Himmel aus. Tiefschwarze Wolken, schwärzer als schwarz, schoben sich mahnend zu der Stadt, über der sich der Mond langsam vollends verdunkelte. Der Wind blies stark. Die Fenster seines Leuchtturms knirschten wie eine dünne Eisdecke, auf der sich schwere Füße bewegten. Dann sah er, daß seine Fenster mit vielen Regentropfen behaftet waren. Die Tischlampe, die sich in der Scheibe spiegelte, brachte ihr Abbild durch die Regentropfen auf dem Fensterglas wie eine Mondlandschaft zutage. Schwerer Regen trommelte gegen die Scheiben, und der Lichtstrahl seines Turms ließ die Regenmassen deutlich werden. Gleich einem Wasserfall, der sich aus großer Höhe ergießt, stürzte der Regen in das aufgewühlte Meer, dessen Wellen immer größer wurden …

* * *

Mr. Wellhorn stakste im kleinen U-Boot umher. Weit konnte er sich nicht bewegen, alles war eng und vollgepackt. Überall befanden sich Rohre und Hebel, kreisförmige Meßgeräte, Ventile und Handräder. An den Seiten klemmten schmale Sitzbänke, die mit Leder bespannt waren und an ihren Senkrechten Türen hatten. Direkt vor dem Steuerrad war ebenfalls eine Sitzbank, größer und auch höher. Hinter dem Steuerrad thronte eine Säule mit einer dicken Glaskugel. In dieser Glaskugel glänzte ein Kompaß, der sich in einer Flüssigkeit wiegte. Unten, an den Bodenplatten und direkt vor dem Steuerrad erkannte der Wärter einige Pedale, die aus Holz bestanden und mit Messingkanten versehen waren. Etwa in Augen- höhe, links und rechts, hingen große, uhrenartige Meßgeräte, deren Zeiger wie kleine, blecherne Wale aussahen. An diesen Anzeigen blieb der Wärter mit seinem Blick hängen, weil er diese Wale erkannte und sich erinnerte, daß die Mütze des Kapitäns auch einen solchen Wal zierte.

“Das sind die Tiefenmesser!” sagte Mr. Wellhorn.

“Aber da sind ja gar keine Zahlen drauf!” rief der Wärter und ging ganz dicht heran, weil er dachte, daß die Zahlen auch sehr winzig sein könnten.

“Eben!” erwiderte Mr. Wellhorn. “Ich sagte ja, es ist egal! Wir können in alle Tiefen tauchen!”

Der Wärter stutze. Sollte das ein Scherz sein? “Was macht denn ein Tiefenmesser für einen Sinn, wenn keine Zahlen drauf sind? Und wozu braucht man einen Anzeiger, wenn der nichts anzeigen braucht? Noch dazu als Wal geformt?”

Mr. Wellhorn grinste: “Sehen Sie, es ist so, wie ich sagte, In Ihrem Kopf kreisen Gedanken und Sorgen, deren Bedeutung nichtig ist!”

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Für einen Moment war Stille im Boot. Die Worte erdrückten das Gemüt des Wärters, zumal er sich erinnerte, vor kurzer Zeit noch in einer ähnlichen Situation gewesen zu sein.

“Alle auf dieser Insel wollten sich umbringen”, fuhr Mr. Wellhorn fort, “nur keiner traute sich! Niemand wollte den ersten Schritt tun und verschob die ‘letzte Tat’ auf den nächsten Tag – oder auf die nächste Nacht. Die Nächte waren besonders schlimm. Wenn die Dunkelheit sich auf die Insel wie erdrückender Beton legte, waren viele in ihrer traurigsten Stunde und versammelten sich unverabredet auf dem großen Felsen, von dem sie sich herunterstürzen wollten! Herunter auf weitere Steine, auf denen sie erschlagen würden! Manche von ihnen sangen düstere Lieder, andere schwiegen, bis sie die Kraft für den Sprung gefunden hatten. Es sprangen wenige. Die meisten gingen lebenden Körpers die Wand hinunter und nahmen sich ganz fest vor, der Nächste zu sein … Morgen. Die nächste Nacht.”

Der Wärter schwieg. Zwar brannten ihn Fragen, die er am liebsten sofort beantwortet haben wollte, aber die Stimmung dieser Szene schnürte seine Kehle zu, und so konnte er kein Wort herausbringen.

“Die Insel wurde immer voller, und Charlie war schon bald ein alt Eingesessener. Irgendwann stellte er fest, daß er wahrscheinlich nie den Mut finden würde, seinen Entschluß Wirklichkeit werden zu lassen. Mit jedem Tag zögerte er mehr. Mit jedem Tag aber sah er auch immer mehr von diesen Selbstmordkandidaten, und das wiederum drückte seine ohnehin schon tief liegende Stimmung. Irgendwann dann hatten sich einige um ihn ‘gekümmert’, sie sprachen ihm Mut zu. Allerdings nicht den Mut zum Leben – sondern den Mut zum Sterben.”

“Hören Sie auf, das ist ja nicht auszuhalten!” schrie der Wärter und wollte am liebsten gehen.

“Wollen Sie nun Antworten haben – oder nicht!?” Mr. Wellhorn stützte seine Fäuste an die Hüften.

“Ich … ich will Antworten!” beschwichtigte der Wärter. “Erzählen Sie weiter, ich bin ganz still!”

“Charlie wurde immer trauriger und empfand das Leben als einen schwarzen See, in dessen Tiefen, dort, wo es am dunkelsten ist, er hineingerissen werden wollte. Charlies Gemüt bekam aber einen weiteren Knacks, als er erfuhr, daß er eine unheilbare Krankheit hatte. Eine Krankheit, die er von Anbeginn mit sich führte und die im Laufe seines Lebens immer schlimmer wurde. Wie gesagt: Sie war unheilbar! Charlie sah nun wirklich keinen Sinn mehr, sein Leben weiterzuführen, und so bestieg er eines Abends den besagten Felsen.”

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