Strand von Bugdu – Leseprobe

Als sie ihre Bleibe erreicht hatten und Mr. Robin vom Elefanten herabgestiegen war, trabte das Tier sofort zur Trinkwassertonne. Geräuschstark sog Tumbo das gesammelte Regenwasser auf. Mr. Robin ging sofort zu dem Gestrandeten, der noch immer draußen auf der Bank saß und wie hypnotisiert auf den Zettel starrte.

„Na, haben Sie etwas aufgeschrieben?“ kündigte sich Mr. Robin an.
Der Fremde schaute zu Mr. Robin. „Sehen … Sie!“ erwiderte er.
Mr. Robin schaute auf den Zettel. Aber es waren keine Worte zu erkennen, sondern nur Striche. „Was ist das?“ fragte er. „Ein … Bild!“ gab der Fremde zurück. Mr. Robin versuchte, der einfallslosen Antwort mit Humor zu begegnen: „Ja, richtig, wie konnte ich nur fragen?“

Dann nahm er das Papier und hielt es gegen das Licht, weil er dachte, es könnten geheime Schriften zu sehen sein. Aber dem war nicht so. Alle Linien prägten sich deutlich ins Papier ein und es gab nichts anderes als diese gezeichneten Züge.

„Sie haben einen Kreis gemalt, durch den ein waagerechter Strich verläuft.“ stellte Mr. Robin fest. „Genau.“ „Ich frage mich, was Sie mir damit sagen wollen.“Der Fremde gab keine Antwort. „Also überlegen wir mal“, grübelte Mr. Robin, „der Kreis könnte die Sonne sein, der Strich ist das Meer. Da wir zwei Halbkreise haben, ist der obere die Sonne und der untere deren Spiegelung im Wasser. Jetzt könnte man fragen, ob es sich um einen Sonnenauf-oder untergang handelt. Hmm – vielleicht wollen Sie mir damit sagen, daß Ihr Schiffsunglück abends geschah und Sie in der Nacht im Rettungsboot ausharrten? Sie können ja nur ein Schiffsunglück erlebt haben, sonst wären Sie nicht im Rettungsboot gewesen. Man besteigt schließlich nicht freiwillig so eine Nußschale und rudert damit über den Ozean.“

Der Fremde gab weder eine Antwort noch ein Zeichen.

„Vielleicht möchten Sie damit ausdrücken, daß Sie zwei halbe Seelen
in der Brust haben? Gewissermaßen haben Sie ja ein Durchmesser-zeichen gemalt. Vielleicht sind Sie ja dabei, Ihr Leben neu zu gestalten, weil Sie die Hälfte Ihrer theoretischen Lebenserwartung erreicht haben … oder weil Sie meinen, bisher nur ein Durchschnittssleben geführt zu haben?“

Der Fremde zeigte keine Regung.

„Verdammt noch mal, wie soll ich Ihnen helfen?!“ schrie Mr. Robin den Mann an. „Ich habe Sie aus dem Rettungsboot gezogen und hierher gebracht, ich gab Ihnen zu Essen und ein Dach überm Kopf! Alles, was Sie mir dafür zurückgeben, ist ein ‚ich weiß nicht‘ und ein nichtssa-gendes Bild! Wissen Sie was? Ich brauche Sie nicht!
Von mir aus können Sie wieder in Ihr Holzwrack verschwinden und dort verfaulen! Ich bin auch ohne Sie glücklich auf der Insel, alleine mit Tumbo!“
Mr. Robin stampfte in die Hütte und holte einen Obstkorb. „Hier! Essen Sie! Gibt Nervennahrung!“

Mit versteinerter Miene griff der Fremde in den Korb und verspeiste einige Früchte. Schmatzend genoß er sie und blickte dabei auf den Boden.

„Es … es tut mir … leid!“ ließ er während des Kauens verlauten. „Ich erinnere mich … an nichts mehr. Ich … weiß nicht, wie ich heiße… ich weiß nicht, wie alt ich bin … und ich weiß verflucht noch mal nicht… wie ich auf diese Insel … gekommen bin.“ Dann hielt er inne und fügte noch hinzu: „Alles, was mir … in den Sinn kommt… ist diese … Zeichnung. Es tut mir … leid!“

Mr. Robin setzte sich zu dem Mann hin. Für eine Weile verharrte er, versuchte dann, sich zu lockern, dabei atmete er tief durch. „Ist schon gut“, beschwichtigte er nach seiner inneren Einkehr, „wir machen es so: Ich beruhige mich und Sie entspannen sich! Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen. Nur ein paar wenige Bitten habe ich: Gehen Sie nicht alleine weg, reden Sie mit mir und wenn Ihnen irgend etwas einfällt, schreiben Sie es auf oder zeichnen meinethalben etwas. Aber ich muß es auch verstehen können! Wenn ich Ihnen helfen soll, müssen wir uns austauschen!“

Der Fremde nickte und schaute Mr. Robin mit dankbarem Blick an. Dann bekamen seine Augen den Glanz der Rührung.

„Und solange Sie Ihren Namen nicht wissen, werde ich einen für Sie aussuchen“, fuhr Mr. Robin fort und fügte noch hinzu: „Vielleicht haben Sie einen Namenswunsch?“

Der Fremde war sich unschlüssig. Was für einen Namen sollte er sich auch geben? ‚Mr.-Ich-Weiß-Nicht‘ vielleicht? Er öffnete seine Hände und versuchte damit anzudeuten, daß er einen neuen Namen akzeptieren würde.

„Also gut. mal überlegen … hmm … Sie sind jemand Neues auf der Insel … und Sie sind ein Mann … hmm … also … hmm … wissen Sie was? Ich nenne Sie ‚Mr. Newman‘! Sind Sie einverstanden?“

Der Fremde nickte. Dann wiederholte er seinen neuen Namen ganz langsam, ließ ihn geradezu auf seiner Zunge zergehen und versuchte, zu lächeln.

„Willkommen, Mr. Newman!“ sagte der Elefantenmann und reichte ihm die Hand. Mr. Newman erwiderte diese, beide besiegelten somit ihre Verbundenheit, und es war Tumbo, der hinzukam und seinen Rüssel auf die ineinandergefalteten Hände legte.

* * *

„Schauen Sie sich das Tier an. Es ist groß, aber fast lautlos. Es kann gefährlich sein, aber es frißt nur Pflanzen. Es ist schwer, läuft aber weich wie auf einem Pudding. Es könnte alles niederwalzen, liebt aber den Frieden, braucht sogar Zärtlichkeiten.  Die Natur ist voller Gegensätze. Und trotzdem oder gerade deshalb hat alles seinen Sinn. Das gilt nicht nur für Elefanten! Das gilt auch für uns!“

Mr. Newman stand auf und ging ein paar Schritte umher. Er kratzte sich am Kopf, manchmal verschränkte er aber auch die Arme hinter den Rücken. Ihn ihm schien es heftig zu arbeiten. Dann ging er zum Spülsaum und schaute aufs Meer. Er tat dies lange, obwohl er sich ja sonst dabei unwohl fühlte. Diesmal aber schien ihm dieser Anblick nichts auszumachen. Dann holte er tief Luft und fragte: „Warum … erzählen Sie mir … das alles?“

Mr. Robin stand auf und ging zu Mr. Newman. Nebeneinander standen sie am Spülsaum, dabei umschmeichelte sie eine zarte Welle. Tumbo watete durch das Wasser, ging aber nur bis zu den Knien hinein. Möglicherweise wäre er tiefer hineingegangen, wenn seine Freunde, die Pinguine, dabeigewesen wären. Aber von ihnen fehlte jede Spur, vermutlich warteten sie am Strand nahe der Hütte auf ihn. „Damit Sie sich erinnern! Werden Sie sich Ihrer Selbst bewußt!“, gab Mr. Robin zur Antwort. „Ich kann es nicht oft genug sagen: Werden Sie ein Elefant!“

* * *

11. Lesung: Das Wellhornboot

„Im Leuchtturm brennt noch Licht“ – Gäste im Leuchtturm
> C r e a t i v – C e n t r u m   N e u k ö l l n e r   L e u c h t t u r m
Emser Str. 117, 12051 Berlin
Tel.: (030) 39 50 53 76 / 0152 04 7 05 093

Irene Aselmeier präsentiert: Der Berliner Autor Kay Fischer liest aus seinem Roman „Das Wellhornboot“

Eintritt frei.

10. Lesung: Zeit im Sand

(fand kurzfristig im „Neuköllner Leuchtturm“, Emser Str. 117, 12051 Berlin statt)
Kay Fischer liest aus „Zeit im Sand“
> R e s t a u r a n t   „S h a a n“, Richardplatz 20, 12055 Berlin
Tel.: (030) 68 08 93 82

Eintritt frei.

Das Wellhornboot – Leseprobe

Das Meer war aufgewühlt wie ein übergroßes Gebirge. Grau und schwarz waren die Wellen, die sich drohend auftürmten und immer größer zu werden schienen. An der Krone jeder Welle brach das Wasser um und durchmischte sich mit Luft, so daß dort weißer Schaum sichtbar wurde. Bedrohlich sah der Himmel aus. Tiefschwarze Wolken, schwärzer als schwarz, schoben sich mahnend zu der Stadt, über der sich der Mond langsam vollends verdunkelte. Der Wind blies stark. Die Fenster seines Leuchtturms knirschten wie eine dünne Eisdecke, auf der sich schwere Füße bewegten. Dann sah er, daß seine Fenster mit vielen Regentropfen behaftet waren. Die Tischlampe, die sich in der Scheibe spiegelte, brachte ihr Abbild durch die Regentropfen auf dem Fensterglas wie eine Mondlandschaft zutage. Schwerer Regen trommelte gegen die Scheiben, und der Lichtstrahl seines Turms ließ die Regenmassen deutlich werden. Gleich einem Wasserfall, der sich aus großer Höhe ergießt, stürzte der Regen in das aufgewühlte Meer, dessen Wellen immer größer wurden …

* * *

Mr. Wellhorn stakste im kleinen U-Boot umher. Weit konnte er sich nicht bewegen, alles war eng und vollgepackt. Überall befanden sich Rohre und Hebel, kreisförmige Meßgeräte, Ventile und Handräder. An den Seiten klemmten schmale Sitzbänke, die mit Leder bespannt waren und an ihren Senkrechten Türen hatten. Direkt vor dem Steuerrad war ebenfalls eine Sitzbank, größer und auch höher. Hinter dem Steuerrad thronte eine Säule mit einer dicken Glaskugel. In dieser Glaskugel glänzte ein Kompaß, der sich in einer Flüssigkeit wiegte. Unten, an den Bodenplatten und direkt vor dem Steuerrad erkannte der Wärter einige Pedale, die aus Holz bestanden und mit Messingkanten versehen waren. Etwa in Augen- höhe, links und rechts, hingen große, uhrenartige Meßgeräte, deren Zeiger wie kleine, blecherne Wale aussahen. An diesen Anzeigen blieb der Wärter mit seinem Blick hängen, weil er diese Wale erkannte und sich erinnerte, daß die Mütze des Kapitäns auch einen solchen Wal zierte.

„Das sind die Tiefenmesser!“ sagte Mr. Wellhorn.

„Aber da sind ja gar keine Zahlen drauf!“ rief der Wärter und ging ganz dicht heran, weil er dachte, daß die Zahlen auch sehr winzig sein könnten.

„Eben!“ erwiderte Mr. Wellhorn. „Ich sagte ja, es ist egal! Wir können in alle Tiefen tauchen!“

Der Wärter stutze. Sollte das ein Scherz sein? „Was macht denn ein Tiefenmesser für einen Sinn, wenn keine Zahlen drauf sind? Und wozu braucht man einen Anzeiger, wenn der nichts anzeigen braucht? Noch dazu als Wal geformt?“

Mr. Wellhorn grinste: „Sehen Sie, es ist so, wie ich sagte, In Ihrem Kopf kreisen Gedanken und Sorgen, deren Bedeutung nichtig ist!“

* * *

Für einen Moment war Stille im Boot. Die Worte erdrückten das Gemüt des Wärters, zumal er sich erinnerte, vor kurzer Zeit noch in einer ähnlichen Situation gewesen zu sein.

„Alle auf dieser Insel wollten sich umbringen“, fuhr Mr. Wellhorn fort, „nur keiner traute sich! Niemand wollte den ersten Schritt tun und verschob die ‚letzte Tat‘ auf den nächsten Tag – oder auf die nächste Nacht. Die Nächte waren besonders schlimm. Wenn die Dunkelheit sich auf die Insel wie erdrückender Beton legte, waren viele in ihrer traurigsten Stunde und versammelten sich unverabredet auf dem großen Felsen, von dem sie sich herunterstürzen wollten! Herunter auf weitere Steine, auf denen sie erschlagen würden! Manche von ihnen sangen düstere Lieder, andere schwiegen, bis sie die Kraft für den Sprung gefunden hatten. Es sprangen wenige. Die meisten gingen lebenden Körpers die Wand hinunter und nahmen sich ganz fest vor, der Nächste zu sein … Morgen. Die nächste Nacht.“

Der Wärter schwieg. Zwar brannten ihn Fragen, die er am liebsten sofort beantwortet haben wollte, aber die Stimmung dieser Szene schnürte seine Kehle zu, und so konnte er kein Wort herausbringen.

„Die Insel wurde immer voller, und Charlie war schon bald ein alt Eingesessener. Irgendwann stellte er fest, daß er wahrscheinlich nie den Mut finden würde, seinen Entschluß Wirklichkeit werden zu lassen. Mit jedem Tag zögerte er mehr. Mit jedem Tag aber sah er auch immer mehr von diesen Selbstmordkandidaten, und das wiederum drückte seine ohnehin schon tief liegende Stimmung. Irgendwann dann hatten sich einige um ihn ‚gekümmert‘, sie sprachen ihm Mut zu. Allerdings nicht den Mut zum Leben – sondern den Mut zum Sterben.“

„Hören Sie auf, das ist ja nicht auszuhalten!“ schrie der Wärter und wollte am liebsten gehen.

„Wollen Sie nun Antworten haben – oder nicht!?“ Mr. Wellhorn stützte seine Fäuste an die Hüften.

„Ich … ich will Antworten!“ beschwichtigte der Wärter. „Erzählen Sie weiter, ich bin ganz still!“

„Charlie wurde immer trauriger und empfand das Leben als einen schwarzen See, in dessen Tiefen, dort, wo es am dunkelsten ist, er hineingerissen werden wollte. Charlies Gemüt bekam aber einen weiteren Knacks, als er erfuhr, daß er eine unheilbare Krankheit hatte. Eine Krankheit, die er von Anbeginn mit sich führte und die im Laufe seines Lebens immer schlimmer wurde. Wie gesagt: Sie war unheilbar! Charlie sah nun wirklich keinen Sinn mehr, sein Leben weiterzuführen, und so bestieg er eines Abends den besagten Felsen.“

* * *